10. Juni (161)↗

"Vollständige Abstraktion ist der natürliche Zustand des Geistes" (2:1). Dieser Zustand hat jetzt, wo ich nur das Konkrete sehe und nur auf Fragmente des Ganzen schaue, für mich keinerlei Bedeutung. Aussagen wie "Alles ist Eins" hören sich zwar ganz eindrucksvoll an, werden in Diskussionen auch gerne als "Argument" genutzt, weil sie gerade modern sind, aber das ist nur ein Nachplappern von Aussagen, die irgendwo gelesen oder gehört worden sind. Der konkret denkende Geist kann diese Aussagen jedoch nicht erfassen, sie bleiben "leere Töne" (4:6).

Was kann ich mir unter "vollständiger Abstraktion" vorstellen? Eigentlich nichts, denn Vorstellungen sind immer konkret. Um eine Ahnung davon zu bekommen, könnte ich folgendes Gedankenexperiment durchführen: ich betrachte zwei verschiedene Äpfel, d.h. ich sehe zwei unterschiedliche Gegenstände. Eine erste Abstraktion besteht darin, Äpfel zu sehen und sie daher nicht als zwei unterschiedliche Dinge anzusehen. Nun lege ich eine Birne hinzu und abstrahiere weiter: es handelt sich z.B. um Obst. Dazu kommt nun ein Stück Käse und ich abstrahiere zu "Lebensmittel". Diese Abstraktionen denke ich mir nun für alles, was ich wahrnehme, denke oder mir vorstellen kann, fortgesetzt. Nichts davon ist ein unterscheidbares Ding, sondern wird als Ganzes gesehen. Dann habe ich immer noch nicht die "vollständige Abstraktion" begriffen, aber möglicherweise eine Ahnung davon.

Da ein Teil des Geistes sich in einem unnatürlichen Zustand befindet, weil er konkret denkt, kann auch nur das Konkrete genutzt werden, um Vergebung, meine einzige Funktion hier, zu üben. Konkretisierung führt zu Symbolen, und da Symbole Trennung bedeuten, sind es Symbole für Angst. Angst an sich hat keinerlei Bedeutung, aber da ich sie an Symbolen festmache, gebe ich ihnen Bedeutung. Eines der wesentlichen Symbole, die ich zum Zwecke der Angst nutze, sind Körper. Ich identifiziere mich mit einem Körper und sehe alle meine Brüder als Körper. "Körper greifen an, der Geist aber nicht" (6:1). Ärger, Furcht oder Hass müssen immer konkret sein, es muss ein Ding (Symbol) geben, das angreift oder angegriffen werden und das ich als wirklich ansehen kann.

Daher will ich heute über diese Symbole hinaus schauen und mich meinem natürlichen Zustand annähern, indem ich eines der Symbole auswähle und darum bitte, es anders zu sehen. "Ein Bruder ist alle Brüder. Jeder Geist enthält alle Geister, denn jeder Geist ist eins" (4:1-2). Sehe ich die Wahrheit in einem meiner Brüder, sehe ich sie in allen und auch in mir. Also wähle ich einen meiner Brüder aus, der mir gerade in den Sinn kommt, und betrachte sehr konkret, was ich in ihm sehe: seinen Körper, sein Äußeres, sein Verhalten, die Gefühle, die er in mir auslöst. Ich stelle fest, dass ich nicht DAS in ihm sehe, was er wirklich IST: mein Erlöser. Denn er erinnert mich daran, dass ich ein Symbol aus ihm gemacht und die verschiedenen Formen der Angst auf ihn projiziert habe. Also bitte ich ihn: "Gib mir deinen Segen, heiliger SOHN GOTTES" (11:7), denn ich will mit CHRISTI Augen auf ihn schauen und SEINE vollkommene Sündenlosigkeit sehen, die die meine ist. Ich warte still auf SEINE Antwort, wobei ich den Gedanken als Leitlinie nutze.