Die Parabel vom Seil

Von Peter Russell

Wir gleichen einer Person, die an einem Stück Seil festhält.

Er hält daran fest, weil ihm sein Leben lieb ist, denn er weiß, wenn er loslässt, wird er abstürzen und sterben. Seine Eltern, seine Lehrer und viele andere haben ihm gesagt, dass das so ist. Wenn er sich umschaut, sieht er, dass alle anderen es auch tun.

Nichts bewegt ihn dazu los zulassen.

Eine weise Person kommt vorbei. Sie weiß, dass Festhalten unnötig ist, dass die vermeintliche Sicherheit eine Illusion ist und ihn nur dort festhält, wo er ist. Also sucht sie nach einem Weg, die Illusionen aufzuzeigen und ihm zu helfen, frei zu sein.

Sie spricht von wirklicher Sicherheit, von tieferer Freude, vom Frieden des Geistes. Sie sagt ihm, er kann dies kosten, wenn er nur einen Finger vom Seil loslässt.

»Ein Finger«, denkt der Mann, »das ist kein zu großes Risiko, um einen Eindruck davon zu bekommen.« Also stimmt er diesem ersten Schritt zu.

Und er spürt größere Freude, Glück und einen Frieden des Geistes.

Aber es reicht nicht, ihm die endgültige Erfüllung zu bringen.

»Noch größere Freude, Glück und Frieden erreichst du«, sagt sie ihm, »wenn du einfach nur den zweiten Finger loslässt.«

»Dies«, sagt er zu sich selbst, »ist wesentlich schwieriger. Kann ich das tun? Ist es sicher? Habe ich den Mut?« Er zögert, dann löst er langsam den Finger, fühlt erst einmal, wie es ist ... und geht das Risiko ein.

Er ist erleichtert, dass er nicht fällt; stattdessen erfährt er größeres Glück und inneren Frieden.

Aber könnte er noch weiter gehen?

»Vertraue mir«, sagt sie, »Habe ich mich bis hierhin geirrt? Ich kenne deine Ängste, ich weiß, was deine Gedanken dir einreden - es ist verrückt, es widerspricht allem, was du bisher gelernt hast - aber bitte, vertraue mir. Schau mich an, bin ich nicht frei? Ich verspreche dir, daß du in Sicherheit sein wirst, und du wirst größere Freude und Zufriedenheit erfahren.«

»Will ich Glück und Frieden wirklich so sehr«, fragt er sich, »dass ich riskiere, alles aufzugeben, was ich bisher geschätzt habe? Im Prinzip, ja; aber kann ich sicher sein, dass ich nicht falle?« Mit ein wenig Überredungskunst schaut er auf seine Ängste, um ihre Grundlage zu erkennen, um zu erkennen, was er wirklich will. Langsam fühlt er, wie seine Finger sich lösen. Er weiß, er kann es tun. Und er weiß, er muss es tun. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis er seinen Griff löst.

Und er fühlt einen noch größeren Strom der Freude und des Friedens durch sich fließen.

Nun hängt er nur noch an einem Finger. Die Vernunft sagt ihm, dass er schon längst hätte fallen müssen, aber es ist nicht passiert. »Ist möglicherweise irgend etwas am Festhalten falsch?« fragt er sich. »Habe ich mich etwa die ganze Zeit geirrt?«

»Das musst du selbst entscheiden«, sagt sie. »Ich kann dir nicht mehr helfen. Erinnere dich einfach daran, dass alle deine Ängste grundlos sind.«

Er vertraut seiner inneren Stimme und lässt langsam seinen letzten Finger los.

Und nichts passiert.

Er steht da, wo er immer stand.

Dann bemerkt er, warum das so ist. Er stand die ganze Zeit auf dem Boden.

Er schaut auf den Boden und weiß, dass er nie wieder festhalten muss. Und er findet den wahren Frieden des Geistes.